Liebe Reichenhallerinnen, Liebe Reichenhaller,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„nie wieder ist jetzt!“
Unter diesem Motto haben in den letzten Wochen zahlreiche Kundgebungen in der gesamten Bundesrepublik stattgefunden. Es freut mich sehr, dass heute so viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft hierher auf den Rathausplatz von Bad Reichenhall gekommen sind, um auch in unserer Stadt klar zu machen: Nie wieder ist jetzt!
Das „Nie wieder“ ist das Grundmotiv, das unser Grundgesetz durchzieht. Zu gravierend war die einschneidende Erfahrung nationalsozialistischer Diktatur, von einem Weltkrieg mit Millionen Toten und der menschlichen und moralischen Katastrophe des Holocaust. Und im Angesicht dieser Stunde Null haben wir Deutschen uns eben diesen einen Vorsatz gefasst: Nie wieder!
Und deswegen hat man ganz bewusst gleich zu Anfang unseres Grundgesetzes die Würde eines jeden Menschen für unantastbar erklärt. Deswegen hat man festgeschrieben, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist. Und deswegen hat man zum Ziel erklärt, dass Deutschland künftig dem Frieden in einem vereinten Europa dienen will.
Eigentlich scheinen dies für uns alles Selbstverständlichkeiten zu sein. Und dennoch werden diese Selbstverständlichkeiten in unserer Zeit zunehmend in Frage gestellt. Es muss uns alle herausfordern, wenn ganz ungeniert über die massenhafte Deportation von Menschen fantasiert wird, wenn böswillig gegen „Altparteien“ gehetzt und von einem neuen Totalitarismus geträumt wird und wenn ganz offen gefordert wird, die Europäische Union müsse sterben oder Deutschland jedenfalls austreten. All dies ist ohne Zweifel verfassungsfeindlich. Und all dies muss uns auf den Plan rufen, weil unsere Demokratie eben nicht zwangsläufig ist, weil sie von uns auch nicht einfach nur konsumiert werden kann, sondern weil wir immer wieder aufs Neue für sie arbeiten und wenn nötig auch für sie streiten müssen. Ich finde es ein großartiges Zeichen, dass sich hier in Bad Reichenhall ein breites Bündnis gefunden hat von der veranstaltenden Arbeiterwohlfahrt über die Kirchen, die demokratischen Parteien bis hin zu Sport-, Kultur- und Traditionsvereinen, aus zahlreichen Bürgern bis hin zu unserer Staatsministerin Michaela Kaniber, die wir heute eben für unsere Demokratie einstehen. Damit ist zugleich klar: Wir sind keine Schönwetterdemokraten, wir stehen auch dann, wenn es einmal etwas ungemütlicher wird.
Wir alle, jeder Einzelne von uns, wir alle sind heute Nachmittag nicht auf der Couch, nicht beim Sonntagsspaziergang und nicht beim Kaffeetrinken (vielleicht kommt das ja noch). Aber zuallererst sind wir heute aus unseren Wohnungen und Häusern getreten, wir haben uns aufgemacht, haben unsere Komfortzone verlassen und setzen ein klares Signal Gegen rechten Hass für eine weltoffene Gesellschaft!
Vielleicht, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden wir künftig noch sehr viel häufiger unsere Komfortzone verlassen müssen, wenn es darum geht unsere Demokratie zu schützen und sie zu unterstützen. Aber es macht mir Mut und es sollte uns allen Mut machen, dass wir nicht alleine sind, sondern die übergroße Mehrheit in unserer Stadt und im unserem Land.
Wir treten ein gegen rechtsextremen Hass wie wir uns überhaupt gegen jeglichen Extremismus wenden müssen, gegen jede Form von Fanatismus und Totalitarismus. Dagegen wenden wir uns entschieden und wer immer die Axt an die Wurzeln unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung legt, muss mit unserem entschiedenen Widerstand rechnen. Und wir sagen zugleich, wofür wir sind: Für eine weltoffene Gesellschaft, für Zugewandtheit, für Toleranz.
Dass menschenverachtende Ideologien wieder Zulauf bekommen, macht uns eindringlich klar: Es gibt kein Glück im stillen Winkel mehr! Wir sind gefordert. Aber wie, so fragen sich viele, kann ich mich engagieren? Wie soll das funktionieren, sich für die Demokratie zu engagieren? Wie kann ich eintreten für eine weltoffene, tolerante Gesellschaft?
Ich möchte Ihnen heute in dieser Rede im Wesentlichen drei Vorschläge machen:
Erstens: Wir müssen wieder streiten lernen!
Wir brauchen eine positive Streitkultur – in dem Sinne, dass man unterschiedliche Positionen austauschen kann, ohne den Gegenüber als Gegner oder gar als persönlichen Feind zu betrachten. Social Media hat da sicherlich vieles ins Wanken gebracht, aber auch Corona und eine neue Unversöhnlichkeit in der Gesellschaft haben unserer Streitkultur geschadet. Politik ist notwendigerweise auch die Austragung von Interessensgegensätzen, idealerweise deren Ausgleich. Wir brauchen also eine Ebene des sachlichen Austausches, bei der wir trotz (oder vielleicht sogar wegen) unterschiedlichster Meinung persönliche Wertschätzung transportieren. Wir brauchen unter Demokraten eine Haltung, die Kompromisse möglich macht. Und wir dürfen nicht zulassen, dass Politik um sich selbst kreist – nicht im Reichenhaller Stadtrat und nicht im Deutschen Bundestag. Wir brauchen eine konstruktive Haltung, um gemeinsam Lösungen zu finden. In der Migrationsfrage, beim Bürgergeld und beim Staatsangehörigkeitsrecht genauso wie bei Streitfragen hier vor Ort. Darum: Achten wir bei der nächsten Diskussion auf facebook, am Stammtisch, im Familien- und Bekanntenkreis oder im Stadtrat doch einfach mehr darauf, auch persönliche Wertschätzung zu transportieren, sich auf die sachliche Ebene zu konzentrieren und Brücken zu bauen, um Lösungen zu finden.
Zweitens: Wir müssen Toleranz leben!
Die meisten von uns glauben von sich, tolerant zu sein. Im Ganzen haben wir in unserer Gesellschaft aber wahrscheinlich eine Krise der Toleranz. Denn Toleranz darf nicht verwechselt werden mit Indifferenz, Gleichgültigkeit oder damit, alles irgendwie gut zu finden. Toleranz enthält nach dem Philosophen Rainer Forst immer sowohl eine Ablehnungskomponente als auch eine Akzeptanzkomponente. Toleranz wird erst immer da notwendig, wo wir im Grunde etwas nicht gut finden, wo jemand anders ist als ich selbst, wo sich jemand etwas anders verhält. Aber und das ist das entscheidende: Wo immer Toleranz waltet, gibt es eben mehr gute Gründe, das nicht-für-gut-befundene Verhalten trotzdem zu akzeptieren. Richtig verstandene Toleranz ist das Gegenteil von Wegschauen. Deswegen: Schauen wir hin! Mischen wir uns ein! Und wir werden in unserem Alltag entdecken, dass es viele gute Gründe gibt, das anders-Sein, das anders-Denken und das anders-Verhalten zu tolerieren.
Und drittens: Wir müssen lernen, intolerant gegenüber Intoleranz zu sein!
Aber eines ist klar: Wenn wir unsere Weltoffenheit erhalten wollen, kann Toleranz nicht grenzenlos sein. Wir müssen denjenigen, die sich intolerant verhalten, selbst klar entgegentreten und Grenzen setzen. Das gilt im privaten Umfeld genauso wie in der Politik. Darum: Wenn jemand in Ihrem Bekanntenkreis Verschwörungstheorien verbreitet, widersprechen Sie bitte klar und deutlich. Wann immer jemand Hass sät, lassen Sie ihn ihren Widerspruch ernten. Und zuletzt: Artikulieren Sie Ihre Meinung auch mit der Wahrnehmung Ihres vornehmsten Rechts, wenn Sie bei demokratischen Wahlen Ihre Stimme abgeben. Im Juni bei der Europawahl ist dazu die erste Gelegenheit. Intolerante Kräfte von rechter, linker und neuerdings von islamistischer Seite warten geradezu darauf, ihre Macht im Europäischen Parlament zu stärken. Treten Sie dem entschlossen entgegen, gehen Sie zur Wahl, beteiligen Sie sich und geben Sie bei allen Wahlen Ihre Stimme ab – und zwar für eine demokratische Kraft.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Herausforderungen unserer Zeit sind groß. Die Bedrohungen von Außen und von Innen haben in einem Maße zugenommen, das wir nicht für möglich gehalten hätten. Und deswegen gilt umso mehr: Nie wieder ist jetzt!
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich den KZ-Überlebenden Max Mannheimer zitieren, der uns einen gemeinsamen Auftrag hinterlassen hat. Erinnernd an die Nazi-Diktatur und ihre Verbrechen sagte er:
„Ihr seid nicht für das verantwortlich, was geschehen ist.
Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“